Das geraubte Siegel

Wir schreiben das Jahr 1622.
Der einst mächtige Hanse-Bund zerfällt immer mehr. Die wenigen verbliebenen norddeutschen Hansestädte schließen zwar noch einmal ein Schutzbündnis, doch tatsächlich kämpft jeder gegen jeden um Handlesbeziehungen und Märkte - und dabei ist man nicht zimperlich in der Wahl der Mittel. Mord und Betrug gehören dazu.


"Wie schon in seinem ersten Roman ,Der Sohn des Freibeuters' versteht es Carsten Frerk meisterlich, uns mit einer spannenden Handlung in Atem zu halten und uns gleichzeitig ein sehr lebendiges Bild einer historischen Epoche zu vermitteln." (Convent Verlag)


Von den Lübecker Nachrichten wurden die Rechte zum Abdruck als Fortsetzungsroman angekauft.


INHALT

Der Tote in der Wallanlage 11

Die Reise nach Schweden 33

Stockholm 55

Im Adeligen Stift zu Preetz 77

Rückkehr nach Hamburg 93

Das Bürgerrecht 121

Das Lagerhaus 141

Altonaer Freiheit 161

Schleswig 181

Lübeck 195

Das Ende 219

Erläuterungen 233

 

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Leseprobe: Kapitel 1

DER TOTE IN DER WALLANLAGE

Der eiserne Ring des Türklopfers wurde mit Wucht gegen die Haustür geschlagen. Alle, die im vorderen Haus schliefen, waren sofort wach. Ein harter Schlag, Stille, dann wieder ein Schlag als wollten stürmende Soldaten im Schutz der Dunkelheit den Feind überraschen und mit den wuchtigen Stößen eines Rammbocks das verschlossene Tor zerschmettern.
Bald polterten eilige Schritte die Treppe hinunter und das heftige Schlagen verstummte. Stattdessen durchdrang lautstarkes Stimmengewirr die nächtliche Stille. Albrecht Moellendorff meinte in dem Geschrei mehrmals "Ich hab' den Auftrag", zu hören. Der alte Hausknecht Winfried wollte den nächtlichen Störenfried anscheinend der Tür verweisen, doch das Stampfen schwerer Stiefel auf der Treppe verhieß, dass ihm kein Erfolg beschieden war.
Marie, die in Albrechts Bett an seiner Seite gelegen und sich bei den ersten Schlägen erschreckt die Decke über den Kopf gezogen hatte, setzte sich jetzt aufrecht neben ihn.
Das Klopfen an der Zimmertür bestätigte Albrechts Annahme, dass ihm der Besuch galt. Nach einem kurzen "Herein", wurde die Tür geöffnet, und einer der Stadtwächter trat über die Schwelle. Im Lichtkreis seiner Laterne schien er weder über die nächtliche Stunde irritiert zu sein, noch hielt er es für angebracht, sich für die Ruhestörung zu entschuldigen. Er war allerdings redlich bemüht, nur den Ratsherren anzublicken und nicht auf die nackten Brüste von Marie zu schielen. Mit einer ungelenken Bewegung des Armes deutete er so etwas wie militärisches Salutieren an. "Herr Rat! Ihre Anwesenheit wird verlangt. Is'n lebloser Mann gefunden, und wie das und der aussieht, is'er nicht natürlichen Tod's gestorben!"
Albrecht nickte, und der Mann der Stadtwache ging leise schnaufend auf den Flur zurück. Marie warf sich hastig ihr Nachthemd über und suchte dann seine Kleidungsstücke zusammen. Ganz in Gedanken zog er sich das Hemd und die weite Hose, die Weste und die Jacke über den Körper. Er hatte schon seit einigen Monaten überlegt, das Amt des ersten Gerichtsherrn an einen anderen weiterzugeben, doch noch bekleidete er es. Es musste ein besonderer Toter sein, wenn man ihn mitten in der Nacht herbeiholen ließ und nicht den nächsten Tag abwartete oder den Jüngeren der beiden Gerichtsherren weckte, dem die alltäglichen Fälle überlassen wurden. Schließlich zerrte er die dicken Strümpfe hoch und zwängte seine Füße in die Schaftstiefel, trat einmal kurz fest auf, das Schuhleder saß passend, und er war bereit zu gehen.
Der Stadtwächter stand an der Treppe, hielt die Lampe seitlich von sich, dass für sie beide die Stufen beleuchtet wurden, und stampfte die Stiegen hinunter. Winfried hatte inzwischen den Ratsdiener Hinrich geweckt, der dem Ratsherrn persönlich zugeordnet war. Er schlief im hinteren Gesindehaus und wartete nun bereits angezogen am Fuß der Treppe. Albrecht nickte nur kurz zustimmend, wies das hingehaltene Lederkoller jedoch zurück und warf sich nur den Mantel über die Schultern. Dann stülpte er sich den breitkrempigen Hut auf den Kopf und verließ mit seinen beiden Begleitern das Haus Zum Goldenen Schiff.
Da der Gerichtsherr nichts fragte, hielt auch der Stadtwächter den Mund geschlossen. Schweigend gingen die drei Männer durch die menschenleeren Straßen der Hamburger Altstadt, die nur der Mond mit seinem fahlen Licht erhellte. Der groß gewachsene Stadtwächter marschierte mit weit ausholenden Schritten voran, so dass Moellendorff und der Ratsdiener sich bemühen mussten, das Tempo mitzuhalten. Bald durchquerten sie das ehemalige Ackertor in der alten Stadtbefestigung, passierten den Neuen Wall, der immer noch so hieß, obwohl er nun in der Stadtmitte aufragte, und bogen in der Neustadt nach Norden ab. Der harte Klang ihrer Stiefel auf den gepflasterten Straßen der Altstadt versank im Sand und Lehm der unbefestigten Wege der Neustadt. Weit voraus, an den Wallanlagen der neuen Stadtbefestigung, war eine Ansammlung von Lichtern und Menschen zu erkennen.
Vier Nachtwächter mit ihren Laternen und einige Soldaten der städtischen Garnison mit Fackeln beleuchteten ein Areal an der inneren Wallanlage, dessen endgültige Aufschüttung und Befestigung noch nicht vollständig war: Das nordwestliche Dammtor.
Als er den Ratsherrn erkannte, salutierte der anwesende Leutnant der Wallsoldaten und erstattete Rapport: "Ein Stadtwächter sah, wie vier Gestalten an der Wallanlage zu schaffen waren. Er eilte herbei, die Männer machten sich aus dem Staub, und er sah hier zwei Stiefel aus der Erde ragen, wobei der dazu gehörende Körper bereits im Erdreich vergraben worden war. Anscheinend wollte man den Toten hier verscharren. Der aufgeregte Wächter versuchte, sein Horn zu blasen, was ihm nur mit quiekenden Tönen gelang, und er ließ daraufhin seine Knarre lärmen, die nicht nur die anderen Stadtwächter, sondern auch die Garnison alarmierte. Wir haben den Körper bereits ausgegraben, und da erschien es mir angebracht, Euch herbeizurufen. Das hielt der Tote mit der Hand umklammert." Damit reichte der junge Offizier dem Senator eine schwere, aus Silber geformte Spange, die aus den verschlungenen Buchstaben G und A geformt war und von dem goldenen Doppelbalken einer römischen Zwei zusammengehalten wurde. Erneut salutierte der Offizier und trat dann einen Schritt beiseite.
Moellendorff erkannte die Spange sofort und ahnte schon, brauchte gar nicht erst hinzublicken, um zu wissen, wer der bleiche Tote war, der dort mit verzerrten Gesichtszügen zwischen den Balken der Arbeitsbühnen im Dreck lag: Seine Exzellenz Oberst Ingmar Graf von Dottingsfron, geheimer Gesandter Gustav II. Adolf, König von Schweden.
Dottingsfron! Ein Mann, der gerne lachte, seiner Sache sicher war und so sehr in sich selber ruhte, dass man meinte, ihn könne nichts umwerfen.
Während Moellendorff sprachlos auf die erstarrten Gesichtszüge des Toten blickte, die jetzt eher wie eine in Wachs gegossene Fratze aussahen, schossen ihm die Gedanken durch den Kopf: Warum wollte man ihn hier verscharren und hatte ihn nicht mit einem großen Stein an den Füßen in die Elbe geworfen? Sollte er gefunden werden? Warum hielt Dottingsfron die Silberspange mit der Hand umklammert? Er hatte diese Spange verborgen unter seiner geschlossenen Weste getragen. Gestern erst, am Nachmittag, vor zwölf Stunden, hatte er sich von ihm herzlich verabschiedet. Dottingsfron wollte nicht, dass er ihn zum Hafen begleitete. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn ihn ein bekannter Ratsherr zum Schiff gebracht hätte, der Ehre zuviel, die man einem unbedeutenden schwedischen Holzhändler hätte zuteil werden lassen. Es kamen und lebten viele Fremde in der Stadt, und in der zweitklassigen Kleidung eines einfachen Kaufmanns würde er niemandem auffallen. Er hatte auf seine lederne Mappe geklopft und augenzwinkernd gelacht: "Es wird schon niemand merken, welch Wertvolles sich in dieser gewöhnlichen Reisetasche befindet."
Moellendorff zeigte auf den schwedischen Gesandten. "Habt Ihr eine lederne Mappe bei ihm gefunden?"
"Nein, Herr. Sollen wir danach suchen?"
"Ja. Und lasst eine Trage holen, damit wir den Toten von hier wegschaffen können."
Während der Offizier seine Befehle gab, ein Soldat davon lief, um die Tragbahre zu holen und die anderen mit ihren Säbeln und Spießen das Erdreich durchwühlten, zog Moellendorff seinen Mantel von den Schultern und verbarg den Leichnam des Schweden unter dem Stoff.
Er war sich sicher, dass die Soldaten die lederne Tasche mit den Dokumenten nicht finden würden. Doch es erschien ihm sinnvoller, sie zu beschäftigen, als dass sie herumstanden, Maulaffen feil hielten und auf unnötige Gedanken und Fragen kamen, auf die sie keine Antwort fanden, und dann in der Stadt herumflüsterten, ob jemand irgendetwas darüber wissen würde.
Es dauerte nicht lange, bis der Soldat mit der Tragbahre zurückkam. Dottingsfron wurde angehoben und auf den Stoff zwischen die Tragestangen gelegt. Die Nachtwächter wurden unter der Leitung des Ratsdieners fortgeschickt wurden, um den Leichnam in das Gerichtsgebäude zu bringen.
Gerichtsherr Moellendorff winkte den jungen Offizier zu sich. "Ihr habt richtig entschieden, mich herbeizuholen. Lasst das Erdreich wieder so herrichten, als ob nichts geschehen sei, und dann vergattert Eure Soldaten, über den Vorfall Stillschweigen zu bewahren. Falls auch nur irgend etwas davon bekannt wird, was von Euren Leuten stammt, werde ich es Euch übel belohnen!"
Ohne das Salutieren des verwunderten Offiziers abzuwarten, machte er kehrt und beeilte sich, die Nachtwächter einzuholen, um sie ebenfalls zu absoluter Verschwiegenheit zu verpflichten.
Während er zügig durch die mondhellen stillen Straßen schritt, dachte er grübelnd: Wer, außer mir und den anderen Ratsherren, wusste um die Mission dieses schwedischen Gesandten? Wem könnten die Papiere von Nutzen sein, die Graf Dottingsfron bei sich getragen und mit seinem Leben verteidigt hat? Steckte möglicherweise Christian von Dänemark hinter diesem Mord?
Ohne den Schutz seines Mantels begann er in der kühlen Oktobernacht zu frösteln - er hätte doch das Lederkoller überziehen sollen -, beschleunigte seine Schritte, und war froh, als er das Gerichtsgebäude erreichte.
Die Vergatterung der Nachtwächter war nur eine Angelegenheit von wenigen Sätzen. Alle nickten, sie würden schweigen wie ein Grab und waren damit wieder ihrem Nachtdienst überlassen.
Ratsdiener Hinrich stand im kleinen Beratungsraum hinter dem Gerichtssaal neben der zugedeckten Trage und blickte den Ratsherrn still fragend an.
Albrecht hatte sich nach kurzer Überlegung entschieden. "Nein, Hinrich, du brauchst keine Totenwache zu halten. Wir werden den Raum verschließen. Es reicht, wenn du in der Frühe als erstes hierher gehst und dann vor der Tür deinen Posten beziehst." Hinrich atmete erleichtert auf. Obwohl es nicht die erste Nacht gewesen wäre, die er als Totenwache neben einem Leichnam gesessen hätte, ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken gewesen, hier möglicherweise die restliche Nacht mutterseelenallein neben einem Toten sitzen zu müssen, dessen Gesichtszüge der Fratze eines Teufels zu gleichen schienen.


Nachdem die Soldaten die Spuren der Wühlarbeit am Wall beseitigt hatten und der Sand glatt festgestampft wie vorher war, gab der Leutnant Anweisung, die Schaufeln wieder an ihren Platz zu stellen und abzurücken.
Als das Knirschen der Soldatenstiefel im Sand verstummt war, löste sich aus dem schwarzen Schatten eines Torbogens ein Mann, der nach beiden Seiten der Häuser Ausschau hielt.
Der Mann wandte sich zu den drei anderen Männern, die sich mit ihm in der Dunkelheit des Torbogens verborgen hatten. Hastig flüsterte ihnen zu: "Die zweite Hälfte eures Lohnes habt ihr ja bereits bekommen. Noch sind die Nachtwächter mit der Tragbahre unterwegs. Also beeilt euch, das ihr nach Hause findet, und lasst euch nicht erwischen!"
Die drei Männer zogen sich die Kapuzen ihrer Mäntel über den Kopf und wollten gleich verschwinden, als einer von ihnen noch nach der Hand des Anführers griff. "Habt Dank für den Lohn, Herr Johannes. Ihr wisst ja, wo Ihr uns finden könnt. So leicht hab' ich seit langer Zeit mein Geld nicht mehr verdienen gekonnt."
"Nun verschwindet endlich", trieb der Angesprochene unwillig seine drei Gehilfen an und schob sie aus dem Schatten des Torbogens auf die Straße. Er selber wartete noch und strich sich gedankenverloren über die schlecht verheilte Narbe auf seiner Wange, die ihn seit seiner Zeit als Landsknecht begleitete. Die ganze Angelegenheit war tatsächlich leichter zu erledigen gewesen, als er es angenommen hatte. Und dass sie ihr Opfer nicht hatten verscharren können? Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Das war jetzt nebensächlich. Er schien zu lachen, als er daran dachte, um wie viel einfacher es war, einen Menschen zu töten, als ihn zu gebären. Und dass der eine dieser drei Halunken, die sich gerade davongemacht hatten, daran dachte, er würde sie noch einmal brauchen, sprach für seine Dummheit. Ebenso, dass der meinte, er hieße Johannes. Niemals heuerte er dieselben Leute an, und niemals verwendete er seinen christlichen Namen.
Dann klemmte der vermeintliche Herr Johannes sich die Ledertasche fester unter die Achsel, vergewisserte sich noch einmal, dass niemand auf der Straße zu sehen war und verschwand dann ebenfalls im Schattenwurf der Häuserfront.


Albrecht konnte nicht wieder in den Schlaf finden. Marie hatte sich in ihre Kammer im Gesindehaus zurückgezogen, und er lag noch einige Zeit wach.
Auch sein längeres Grübeln brachte ihm keine Lösung. Er stand wieder auf, schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, legte sich wieder ins Bett und fand dann endlich in den Schlaf.
Nach einem kurzen gemeinsamen Frühstück war Ratsdiener Hinrich zum Gerichtsgebäude unterwegs. Er hatte das Papier bei sich, das Albrecht nachts beschrieben hatte, und sollte es im Rathaus für den Bürgermeister abgeben.
Albrecht ging über den Flur in das Kontor hinüber, um allein zu sein und nachzudenken.
Unwillkürlich blieb er an der Tür stehen; es hätte ihn nicht überrascht, wenn sein Onkel Karl jetzt an dem großen Eichentisch gesessen hätte. Er hatte sich immer noch nicht damit abgefunden, dass Karl nicht mehr am Leben war. Er meinte, noch den Geruch seines Tabaks riechen zu können, als sei er nur gerade außer Haus gegangen und würde bald zurückkehren. Karl war ihm wie ein Vater gewesen: Hilfreich und mahnend, fördernd und lästig, aber immer auf seiner Seite, und er wäre ohne ihn nicht der Mann geworden, der er heute war.
Nachdenklich flüchtete Albrechts Blick zu dem großen Ölgemälde neben dem Archivschrank. Raumbeherrschend saß sein Großvater Laurentz aufrecht in der Mitte des Bildes in einem Lehnstuhl, gekleidet in der schwarzen Tracht eines Hamburger Ratsherren mit der großen, weißen Halskrause, die zu offiziellen Anlässen getragen wurde. Links hinter ihm stand breitschultrig sein Sohn Karl, rechts er selber, Albrecht, jugendlicher, aber mit dem gleichen schmalen Gesicht wie heute. Sie beide hatten eine Hand auf die Schulter von Laurentz gelegt. So hatte er es als sein Vermächtnis bestimmt. Er war noch gleichzeitig Kaufmann und Ratsherr gewesen, und sein Sohn und sein Enkel, die beide jeweils eine Seite seines Lebens weiterführten, sollten stets daran erinnert werden, als Einheit zu handeln.
Auf dem Tisch lag noch eine lange Pergamentrolle, die er vor zwei Tagen mit Ingmar Graf Dottingsfron studiert hatte und die er jetzt, im Nachsinnen, bedächtig auf der Tischplatte ausrollte. Wehmütig lächelte er und dachte daran, wie diese Karte ins Haus gekommen war und was sie bewirkt hatte.
Vor einem Jahr hatte ein reisender Kartenhändler in den Kontoren der Fernhändler vorgesprochen und den Handelsherren seine Landkarten und Stadtansichten feilgeboten. Auch im Haus Zum Goldenen Schiff hatte er sein Sortiment ausgebreitet und lange mit Karl gesprochen.
Diese Händler kamen weit herum, bereisten ganz Europa und waren eine wertvolle Quelle von Informationen darüber, was sich in anderen Ländern und Städten tat. Nicht nur in ihren Karten und Plänen waren ihre Ansichten aufgezeichnet. Aufgrund von allen dem, das sie in den reichen Handelshäusern und in den Herbergen, in denen sie ihr billiges Nachtquartier fanden, sahen, hörten und beobachteten, waren einige von ihnen klüger, weitsichtiger und besser informiert als viele ihrer Kunden, die sich hinter hohen Stadtmauern verschanzt hatten.
Dieser Händler war einer von den Klügeren gewesen, und Karl hatte nach einem langen Gespräch mehrere Karten von ihm erworben. Eine, eben diese, die Albrecht jetzt ausgebreitet vor sich sah, lag auch an jenem Tag zum ersten Mal auf diesem Tisch. Karl hatte trocken auf dem Pfeifenstiel gekaut, ein Zeichen höchster Konzentration bei ihm, als er den Raum betreten hatte. Mit dem Zeigefinger war er imaginären Routen und Landstraßen entlanggefahren und schien in Gedanken versunken gewesen zu sein. Er war aufgeschreckt, als Albrecht neben den Tisch getreten war und neugierig auf das Pergament geblickt hatte. "Das Baltische Meer?"
"Mmh, volkstümlich die Ostsee genannt", hatte Karl zustimmend gemurmelt und dann auf die Karte gedeutet. "Schau hier", mit seinem Zeigefinger hatte er auf die Karte getippt, "Dänemark und Norwegen, vereint unter dem majestätischen Christian, der es liebt, prächtige Feste an seinem Hof zu Kopenhagen zu feiern und der auch uns, ginge es nach seinem Willen, an seiner königlichen Kandare führen würde." Er hatte aufgeblickt, und Albrecht hatte zustimmend genickt. Dieses Bestreben des dänischen Monarchen war nur allzu bekannt.
"Und hier", Karl hatte die Finger der linken Hand gespreizt, um eine ganze Fläche zu bedecken: "Schweden."
Er hatte seine linke Hand auf der Karte liegengelassen und mit der rechten Hand gen Nordenosten gestrichen "Finnland", und war daraufhin mit der Hand nach Süden hinuntergeschwenkt. "Ingermanland und Kexholm! Indem diese Gebiete jetzt zu Schweden gehören, hat Gustav Adolf den Russen den Zugang zum Baltischen Meer abgeschnitten. Und wie mir der Kartenhändler vorhin berichtete, ist er gegenwärtig dabei, einen Feldzug gegen Livland und seinen katholischen Vetter Sigismund den Dritten von Polen vorzubereiten - einen Verwandten, der ihm schon seit einigen Jahren den Thron streitig macht. Wird der schwedische König auch diesen Feldzug gewinnen, was anzunehmen ist, beherrscht er den ganzen Norden, den Osten und bald auch Teile vom Südufer des Baltischen Meeres und...", Karl hatte die Hände von der Karte genommen, sich zurückgelehnt, plötzlich mit der Faust auf den Tisch geschlagen und wie befreit gelacht: "Er sitzt dennoch wie ein gefangenes Wild in der Falle! Christian von Dänemark kontrolliert den Sund, den einzigen Ausgang des Baltischen Meeres in die weite Welt. Und wie man hört, hat er nicht die geringste gnädige Absicht, Gustav Adolf irgendwelche Freundlichkeiten zu gewähren."
Albrecht hatte verständnislos auf die Karte geblickt und dann mit den Schultern gezuckt, als wollte er damit sagen, was interessiert es uns, wenn diese hochadeligen Sippschaften sich gegenseitig in die Suppe spuckt - solange sie uns in Ruhe lassen.
Karl hatte noch einen Moment gewartet und sich dann verwundert aufgestützt. "Mann, Senator, verstehst du denn nicht, was das bedeutet?"
"Nein." Albrecht hatte tatsächlich keinen Schimmer, worauf Karl hinauswollte.
"Nein? Herrgottnochmal! Der Schwede braucht einen Ausgang aus dieser Falle! Eine Möglichkeit, den Dänen und seine Schiffe im Sund zu umgehen! Nach Norden kann er nicht, da ist nur Land, und da bleibt er im Eis stecken. Nach Süden? Da kommt er nicht weit, dort ist auch nur weites Land und das Königreich des hämischen Sigismunds. Er muss also nach Westen gehen und dort einen Ausweg finden. Am besten einen großen Fluss, eine Stadt mit sicherem Hafen und hohen Mauern, die, wenn's recht ist, mit Christian genau so wenig gemeinsam hat wie er selbst, ihm ein verlässlicher Partner ist und somit aus der dänischen Zwinge befreien kann!"
"Ja, warum nicht?"
Karl hatte Albrecht angeblitzt, als stände ein begriffsstutziger Ochse vor ihm. Dann hatte er ungestüm gepoltert, wie es seine Art gewesen war: "Muss man Senatoren eigentlich erst an den Ohren packen und dann mit der Nase darauf stoßen, damit sie verstehen, worum es geht? Wärest du Kaufmann, hättest du es sofort verstanden! Ich rede von uns, von unserer Stadt, unserem Hafen und der Elbe! Dann kann der Däne die Meerengen meinetwegen prachtvoll mit Kuhmist zuschütten lassen, denn mit unserem Hafen hätten die Schweden das Tor zur weiten Welt!"
"Und du meinst, dass der Schwedenkönig das auch haben will?"
Karl hatte erst die Augen aufgerissen, dann die Hände zusammengelegt und so getan, als ob er beten würde: "Oh, allmächtiger Gott, schick diesem Mann deine Hilfe!" Er war so abrupt aufgestanden, dass der Stuhl über die Fliesen scharrte, und hatte beide Fäuste auf seine Hüften gestemmt: "Wenn ich als Kaufmann immer erst vorher fragen würde, ob jemand meine Ware überhaupt kaufen will, dann würde ich mich ausschließlich auf Bier und Getreide beschränken; Saufen und fressen wollen die Menschen immer." Dann hatte er einen schmeichelnden Gesichtsausdruck aufgesetzt: "Wir müssen ihm diese Möglichkeit schon schmackhaft machen. Von alleine wird er vielleicht nicht darauf kommen. Da muss schon jemand hinfahren und ihm das verkaufen."
Dieser Satz war, ohne dass Albrecht es damals gewusst oder auch nur geahnt hatte, die Entscheidung gewesen, die ihn schließlich als Unterhändler nach Stockholm geführt hatte.
Erik, der jüngere Sohn von Karl, der seinem Vater bei den Handelsgeschäften die Korrespondenz geführt hatte, betrat schnaufend das Kontor. "N'Morgen Senator, hast du schon was von meinem Bruder Eberhard gehört?" Albrecht schüttelte den Kopf. Das Schreiben, das Eberhard nach Hamburg berief, war schon vor vier Wochen, gleich nach Karls Tod, per Boten zu seinem Erstgeborenen nach Amsterdam geschickt worden, der dort die Niederlassung der Moellendorffs leitete. Er würde als Älterer im Stammhaus die Geschäfte leiten und der jüngere Erik sollte an seiner Stelle nach Amsterdam gehen.
Albrecht rollte die Karte zusammen, stellte sie zu den anderen Kartenrollen und machte sich auf den Weg zum Rathaus.


Der Bürgermeister war zwar verwundert gewesen, warum Albrecht ihn mit seinem Schreiben darum ersuchte, die Mitglieder des so genannten Schwedenrates zusammenzurufen, hatte aber dann der Bitte brummend entsprochen: "Moellendorff wird seine Gründe dafür haben!"
Die neun Ratsherren und die beiden worthaltenden Bürgermeister hatten sich im kleinen Raum neben dem Ratssaal versammelt.
Albrecht blickte sich in der Runde um und nickte: Soltow, Rodenborg, Schoweshufen, Rheders, Hartzwich, Twestreng, Ambsing, Wetken und Penshorn. Alles Ratsherren aus Familien, deren Handelshäuser am Handel mit Schweden beteiligt waren. Sie blickten ihn fragend an, und er berichtete den schweigend zuhörenden Männern, was in der vergangenen Nacht passiert war.
"Eine böse Sache, von der Ihr uns berichtet, Moellendorff. Und da Ihr mich gebeten habt, nur die Mitglieder des Schwedenrates einzuberufen, nehmt Ihr an, dass ein Mitglied des übrigen Rates daran beteiligt sein könnte?"
"Ausschließen kann ich im Augenblick nichts. Auch das nicht. Aber es verweist auf unsere Runde und den Vertrag mit Schweden."
Nach kurzem Nachsinnen redeten plötzlich alle Anwesenden durcheinander: "Also hat jemand, den wir nicht kennen, die schwedische Ausfertigung unserer Verträge in Händen!"
"Was verspricht sich dieser Mensch davon? Für ihn sind diese Verträge doch wertlos!"
"Warum soll es denn nur einer gewesen sein?"
"Was wollen die mit unseren Verträgen?"
"Für die sind diese Verträge doch nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie geschrieben sind."
"Ist unsere Ausfertigung der Verträge noch vorhanden?"
Der Bürgermeister nickte bestätigend auf die letzte Frage und hob beschwichtigend die Hände: "Man kann kaum sein eigenes Wort verstehen, wenn alle durcheinander reden!"
In die entstehende Stille hinein war Albrechts Stimme deutlich zu vernehmen: "Es sind nicht die Verträge."
"Was denn sonst?"
"Das, was Dottingsfron außerdem noch bei sich hatte!"
"Die Ledermappe?"
"Blödsinn, wer wird für eine Ledermappe getötet?"
"Es sind schon Menschen für weniger erschlagen worden!"
Nun hob Albrecht die Hände, um den Wortschwall abzuwehren: "Dottingsfron hatte in der Mappe eine Ausfertigung des königlichen schwedischen Siegels bei sich, durch das jedes damit versehene Schriftstück zu einem offiziellen Dokument wird. Ein schwedisches Staatssiegel!"
"Natürlich", brummte die Runde der Ratsherren einstimmig.
Ratsherr Wetken winkte einen der Ratsdiener zu sich und befahl ihm: "Bring Wein! Wie soll man diese Welt denn ohne Wein ertragen?"
Der Bürgermeister erholte sich als erster von seiner Betroffenheit, warf einen missbilligenden Blick zum Ratsherrn Wetken und wandte sich dann an Albrecht: "Was können wir tun?"
Albrecht hatte gegen die Wand gestarrt und schien der Verzweiflung nahe zu sein: "Ich weiß es nicht!"
"Aber wie ich Euch kenne, habt Ihr schon darüber nachgedacht. Was schlagt Ihr vor, was wir tun sollen?"
Nun blickte Albrecht in die Runde und wurde sehr entschieden: "Über den Tod des Schweden muss der Mantel des Schweigens gelegt bleiben. Graf Dottingsfrons Körper liegt noch sicher verborgen nebenan im Gerichtsgebäude, doch wir müssen ihn so schnell wie möglich von dort wegschaffen."
"Meint Ihr, dass die Nachtwächter und Wallsoldaten schweigen werden?"
Während Albrecht nur mit den Schultern zuckte, woher sollte er das wissen, nickte Ratsherr Twestreng, der einer der vier Herren der Wedde war: "Die Wallsoldaten bleiben unter sich. Sie haben keinen Kontakt zu den Bewohnern der Stadt. Und die Nachtwächter werden schweigen, da sie sonst ihre Anstellung und ihre Nebeneinnahmen verlieren, da sie gegen die Vorschriften Bürgern nachts heimleuchten, wofür sie Geld verlangen und erhalten."
Der Bürgermeister war überrascht: "Das wisst ihr und tut als Polizei nichts dagegen?"
Twestreng lächelte: "Ja. Es ist immer ratsam, etwas hinzunehmen, was man zu einem anderen, passenden Zeitpunkt gegen den Mann verwenden kann."
Alle Ratsherren musterten den Herrn der Polizei und fragten sich, ob er insgeheim auch über sie selber etwas wusste und irgendwann, wenn es ihm passend erschien, gegen sie verwenden könnte?
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf, als ob er diese Frage abwerfen wollte und nahm den Faden wieder auf: "Was soll mit dem Körper des schwedischen Gesandten geschehen?"
Ratsherr Twestreng meldete sich wieder zu Wort: "Wie wäre es, wenn man ihn fest in Stoffbahnen einwickeln würde und dann in einem mit Tüchern ausgestopften Bierfass verbirgt? Ein vertrauenswürdiger Schwedenfahrer könnte dann dieses Totenfass unter seine normale Bierladung mischen und es so unbemerkt nach Stockholm transportieren."
"Ein Bierfass? Als Sarg? Das ist gut. Aber wer wird in Stockholm sein, um ihn dort in Empfang zu nehmen? Wir können dem Schweden ja nicht einfach das Bierfass in das Schloss rollen lassen, und dann finden sie unvermutet ihren Grafen darin eingemummt."
Ein ratloses Schweigen breitete sich im Raum aus. Schließlich hatte Ratsherr Penshorn eine Idee: "Wäre es nicht am besten, wenn Moellendorff noch einmal nach Stockholm reiste, um alles in unserem Sinne zu regeln? Oder kennt Ihr einen besseren Mann, den wir damit betrauen könnten?"
Der Bürgermeister starrte auf den Boden, als würde dort ein anderer Name auf den Dielen geschrieben stehen, blickte wieder auf und nickte dann. "Ihr habt Recht, auch wenn es eine ungünstige Jahreszeit ist." Er machte eine Pause, als suchte er nach weiteren Argumenten. Schließlich legte er Albrecht seine Hand auf die Schulter. "Wir hatten unsere Gründe, warum wir den Vertrag mit Schweden nicht der Bürgerschaft zur Zustimmung vorgelegt haben, wie wir es nach den Vereinbarungen zwischen Rat und Erbgesessenen hätten tun müssen. Wenn ihr selber unterwegs seid, brauchen wir die Zahl der Mitwisser nicht unnötig zu erweitern. Eure Familie ist am Handel mit den Schweden führend beteiligt, und Ihr seid am schwedischen Hof auch bereits eingeführt. Also fahrt, in Gottes Namen und in seiner Obhut."
Albrecht Moellendorff nickte und zögerte noch. "Obwohl wir den Tod von Dottingsfron nicht an die große Glocke hängen können, müssten wir den Vogt ins Vertrauen einbeziehen. Auch wenn wir beständig sehr viele Fremde innerhalb der Mauern beherbergen, seine Knechte könnten sich beiläufig in den Spelunken umhören und ein Auge darauf haben, ob ihnen irgendetwas auffällt. Sie sollten dabei allerdings den Schweden nur wie nebenbei als Holzhändler erwähnen."
Ratsherr Twestreng wollte etwas dagegen einwenden, doch der Bürgermeister war schon von der Sitzbank aufgestanden: "Twestreng, wenn eure Leute von der Wedde Fragen stellen, weiß das bald jeder in der Stadt. Ich werde mit dem Vogt reden. Nun geht Moellendorff, sorgt für die Verfrachtung des Schweden, und bereitet Eure Reise vor." Er legte erneut seine Hand auf Albrechts Schulter. "Ihr fahrt mit dem Schiff und begleitet die Konterbande?"
Albrecht schüttelte verneinend den Kopf. "Ich werde den Landweg bis zum Baltischen Meer nehmen. Dann bin ich schneller in Stockholm als das Schiff mit den Bierfässern und kann seine Ankunft vorbereiten."
Vielleicht könnte er im holsteinischen Wagrien, eine gute Meile vor Kiel, im Adeligen Stift zu Preetz wieder um ein Nachtquartier bitten, und dieses Mal wäre es kein Zufall wie bei seiner ersten Reise nach Stockholm, als auf der Rückfahrt eine Achse der Kutsche zerbrochen war, sie dort wider Willen hatten anfragen müssen und er im Stift eine Witwe kennengelernt hatte, deren unbeschwertes Lachen ihm seitdem immer wieder in den Sinn gekommen war. Er würde sie vielleicht wiedersehen können, denn so, wie sie sich von ihm verabschiedet hatte, durfte er annehmen, dass auch sie einer zweiten Begegnung nicht abgeneigt sein würde.
Das Schicksal meint es gut mit den Menschen, wenn es sie nicht wissen lässt, was sie in der vorausliegenden Zeit erwartet. Sonst hätte Albrecht gewusst, dass die erste Reise, die er als Tortur empfunden hatte, ein noch halbwegs annehmbarer Landausflug gewesen war gegenüber der kommenden Reise, die ihn danach sehr genau wissen ließ, warum Gustav Adolf am katholischen Hof der Habsburger in Wien als ,Schneekönig' verspottet wurde. Was andererseits aber auch bedeutete, dass der protestantische Schwede und seine Truppen über eine kristallene Härte verfügten, die alle noch als leibhaftigen Schrecken erleben sollten.


Das Gebäude des Niedergerichts war verschlossen. Albrecht hatte sich mit dem Ratsdiener an die Arbeit gemacht. Sie hoben den Leichnam auf den Tisch, schnitten seine Kleidung auf und zogen sie ihm vom Körper. Während Hinrich den Toten wusch, verharrten die Blicke des Ratsherrn auf den zwei mit Blut verkrusteten langen Schnitten, als habe jemand dem Grafen das Herz aus der Brust reißen wollen.
Albrecht schreckte auf, als der Waschlappen in die Schüssel auf dem Boden platschte und Hinrich die vorbereiteten Stoffbahnen aus einem Jutesack hervorholte. Der Ratsherr wischte sich zwei Tränen aus den Augen und trat an den Tisch.
Hinrich hatte die Trauer des Senators sehr wohl bemerkt: "Geht Euch der Tod des Schweden so nah, Herr, dass Ihr weinen müsst?"
"Nein, er nicht. Es ist ein anderer Toter, an den ich wieder denken musste, als ich dich den Leichnam waschen sah."
Karl war vor vier Wochen mit seinem Pferd gestürzt, das ihn unter seinem schweren Leib begraben hatte. Es war still im Haus Zum Goldenen Schiff geworden. Nachdem der Wundarzt gegangen war, hatte der Tod für alle unmissverständlich an der Tür geklopft und Karl für sich gefordert: Seine Zeit, die ihm bemessen worden war, sei um.
Mechthild hatte an der rechten Seite ihres gemeinsamen Bettes gesessen und Karl, mit Kissen gestützt, saß aufrecht, mit dem Rücken gegen die Wand. Er wollte dem Tod nicht im Liegen begegnen.
Unter Ächzen und Stöhnen hatte er das Umwickeln seines Körpers mit Leinenstreifen erduldet und immer wieder Blut gespuckt. Seine gebräunte Hautfarbe war zunehmend heller und dann aschfahl geworden.
Albrecht, noch nicht bereit, das Schicksal so einfach hinzunehmen, war ruhelos im Raum umhergegangen, und Karls Augen waren den Schatten gefolgt, die der Schein der Kerzen von Albrechts Wanderungen gegen die Wände des Raumes geworfen hatte.
"Herr Senator!" Karl hatte seine Stimme erhoben, und Albrecht war stehen geblieben. "Tu mir einen letzten Gefallen und setz dich hier, auf die andere Seite meines Lagers, neben mich!"
Albrecht hatte seinen Onkel gemustert, sich gefragt, ob er dem Wunsch folgen sollte und sich dann entschieden, ihm zu Willen zu sein. Um die erwartungsvolle Stille zu unterbrechen, hatte er den Stuhl schlurfend über den Dielenboden gezogen.
Karl schien nicht im mindesten von der traurigen Stimmung angesteckt gewesen zu sein. "Macht nicht solche Gesichter. Haben wir nicht schon andere Schicksalsschläge hingenommen?" Er hatte versucht, sie beide zu trösten. "Ich sterbe in Frieden. Ich habe mein Leben gelebt! Gott hat es gut mit mir gemeint. Und die Karten, die er mir in die Hand gegeben hat - ich denke, ich habe sie gut ausgespielt."
Karl hatte nach der Hand seiner Frau gegriffen, behutsam über ihre Haut gestrichen und Mechthild lange angeschaut.
"Frau, wir wussten, dass du länger leben wirst als ich. Niemandem bin ich mehr verbunden als dir. - Haben wir nicht prächtige Kinder und Enkel! Vielleicht können sie, als Ausdruck unseres Lebens, die Freude deines Alters sein."
Mit zärtlicher Festigkeit hatte er die Hand seiner Frau umschlossen, die den Kopf gesenkt gehalten und dann ihren Mann angeblickt hatte und mit ihrer anderen Hand ihrer beiden Hände bedeckte.
Karl hatte den Kopf gewandt, kurz die Augen geschlossen, um die Schmerzenslaute zu unterdrücken und dann zu ihm geblickt: "Und du, Albrecht - du mir liebe Obrigkeit - wie hatte ich gezweifelt, als unser seliger Vater Laurentz dich jungen Spunt als Ratsherren ausersehen hatte. Und wenn ihr euch auch ehrenhalber auf lateinisch Senator nennen lasst, bist du immer ein guter Ratsherr geblieben. Hast immer meinen Rat angenommen."
Die Tür hatte sich lautlos geöffnet, und die Zwillinge waren, sich an den Händen haltend, zögernd nähergekommen.
"Matthias und Hannes! Kommt her, ihr Schlingel! Noch ist Zeit für eine kleine Geschichte." Er hatte versucht, auffordernd zwinkernd auf das Bettuch zu klopfen, schloss aber wieder mit einem unterdrückten Stöhnen die Augen.
Sofort ließen sich seine beiden Enkel aufatmend auf das Bett plumpsen, unbekümmert davon, dass Karl von einer weiteren Schmerzwelle durchpeitscht wurde.
Mechthild hatte ihren Mann und die beiden Enkel betrachtet, die mit großen Augen an seinen Lippen hingen. Schmerzlich war ihr wieder bewusst geworden, dass diese Jahre, die Karl als englischer Freibeuterkapitän unter dem Kommando von Sir Francis Drake über die Meere der Welt gesegelt war, und über die er seinen Enkeln so gerne Geschichten erzählte, seine fröhlichsten Jahre gewesen waren.
Während einzelne Wörter ihr Nachsinnen unterbrochen hatten, "Stürme" und "fliegende Fische", - Ach ja, Karl liebte dieses Bild der fliegenden Fische, die sich aus ihrem angestammten Element erheben und wie die Vögel schweben konnten -, er war immer ehrlich zu ihr gewesen, sie hatte nie bereut, ihn geheiratet zu haben, spürte sie seinen kräftigen Händedruck, hörte ihn sprechen, während Matthias und Hannes gespannt lauschten. "Und wenn nach dem tosenden Sturm die Sonne aufging, war es jedes Mal, als beginne ein neues Leben." Sein Blick war dabei in die Ferne geglitten, als erinnerte er Bilder seiner Vergangenheit, die nur er alleine sehen konnte. Er hatte eine Pause gemacht und dann mit leiser Stimme fortgesetzt: "Und dann in Afrika..."
Sofort hatten Matthias und Hannes Einspruch eingelegt: "Opa, das war in Amerika!"
Karl hatte die Augen weit geöffnet, gemurmelt: "Ja, in Amerika...", und dann die Augen wieder geschlossen.
"Ist Opa jetzt ärgerlich", hatten die Zwillinge in die entstandene Stille hinein gefragt, in der nur noch Karls rasselnder Atem zu hören gewesen war.
Wieder hatte Mechthild den Druck von Karls Hand gespürt, die dann unvermutet nachgiebig wurde, und sie hatte sofort gewusst, dass ihr Mann in diesem Augenblick das Haus des Lebens verlassen hatte.
Mit einem tiefen Seufzer war Mechthild aufgestanden, zum Fenster gegangen und hatte beide Flügel geöffnet, damit Karls Seele entweichen konnte. Dann war sie wieder an das Bett zurückgekommen, hatte ihm nachdenklich über die Stirn gestrichen und behutsam seine Augen geschlossen.
Die Zwillinge hatten still mit fragenden Blicken das Geschehen betrachtet und dann gefragt: "Schläft Opa jetzt?"
"Ja Matthias."
"Erzählt uns Opa Karl jetzt keine Geschichte mehr?"
"Nein, Hannes, er wird euch keine Geschichten mehr erzählen können."
Hannes hatte eine Flunsch gezogen und seinen Bruder angestoßen. Nach einem kurzen Blick der Verständigung waren die beiden vom Bett heruntergerutscht und hatten sich unglücklich getrollt.
Später waren die Mägde mit großen Schüsseln mit heißem Wasser gekommen. Sie hatten Karl entkleidet, gewaschen, ihm die Haare und Nägel geschnitten und ihm dann seinen besten Rock angezogen. Karl hatte vorsorglich darum gebeten, dass niemand an seinem Bart "herumschnippele", wie er sich ausgedrückt hatte und was jetzt befolgt wurde. Schließlich hatte Mechthild ihm einen Peterspfennig unter die Zunge gelegt, damit er an der Himmelspforte sein Eintrittsgeld bei sich hatte, und der alte Winfried hatte darum gebeten, die Totenwache halten zu dürfen.
Er selbst hatte sich nicht zu dem Peterspfennig geäußert und Mechthilds Meinung gelten lassen, dass Gottes Wege unergründlich seien. Und wenn es ihm beliebte, Karl zu sich zu rufen, dann sollte es seine Ordnung haben. Es war seine Entscheidung. Ihm, als weltlichen Gerichtsherrn, stand darüber keine Beurteilung zu.


Albrecht schreckte aus seinen Gedanken auf, als es an der Tür des Gerichtsgebäudes laut klopfte, und war dann wieder gegenwärtig. "Das werden die Böttcher mit dem Bierfass sein. Lass' sie es hinter die Tür hereinbringen, und dann sollen sie wieder gehen."
Er hörte, wie Hinrich mit den Böttchern sprach, dann polterte das Fass über den Steinboden. Als es wieder ruhig geworden war, stand Hinrich fragend in der Tür zum Nebenraum und murmelte: "Tja, ich weiß man nicht, ob..."
"Ob was?" Der Gerichtsherr war ungeduldig. Er konnte es immer weniger gut vertragen, wenn irgendjemand, sei es einer der Beklagten oder einer aus der Dienerschaft, nicht mit der Sprache heraus wollte.
"Ob der Tote da so in das Fass so hineingehen wird."
Albrecht trat in die Diele des Niedergerichts und gab dem Ratsdiener sofort Recht. Er hätte es selber wissen können und müssen: Das Fass war zu klein. Schließlich konnten sie den Körper von Dottingsfron nicht zusammenfalten oder wie Walfischfleisch zerstückeln, um ihn dann in die Tonne zu stopfen. Er dachte nach. Dann hatte er seine Entscheidung getroffen. "Wir müssen das Längenmaß von Dottingsfron abnehmen, und die Böttcher sollen dann bis morgen ein dafür passendes Fass anfertigen."
Während Hinrich den Körper von Dottingsfron abmaß, blickte der Ratsherr noch immer nachsinnend auf das vor ihm stehende Fass und betrachtete das Spundloch zum Füllen. Da würde Dottingsfron nun wahrlich nicht hindurchpassen. Sie brauchten also zudem ein Fass, dass zunächst nur einen festen Boden hatte, damit sie den Körper durch die offene Seite hineinbringen konnten. Erst danach konnte der zweite Boden geschlossen werden. Er würde selber mit dem Böttchermeister reden, der die Wünsche der Moellendorffs nach manches Mal besonderen Fässern für ihre Frachten kannte und keine Fragen stellte, was in diesen Fässern transportiert werden sollte.

 

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