Fünf Jahre komme ich nun immer wieder als Besucher nach Görlitz und so lange hat es gedauert, dass ich mich fragte: Was ist es eigentlich, dass mich als Hanseaten mit dieser niederschlesischen Stadt Görlitz an der Neiße innerlich verbindet, um immer wieder hierher zu kommen?
Ist es die Tatsache, dass Görlitz immer eine bürgerliche Stadt gewesen ist, niemals Residenzstadt? Sind es diese Häuser, deren Eigentümer Handelsherren waren, Ratsherren, die ihr Einkommen und ihre Geltung aus dem Fernhandel bezogen? Ist es diese ursprüngliche Verwandtschaft zum kaufmännischen Hamburg und seinem Bürgerstolz?
Anfangs, 1991, hatte mir ein Dresdner gesagt: "Wenn Sie etwas wirklich Schönes sehen wollen, dann fahren Sie hundert Kilometer weiter nach Osten, nach Görlitz, an die deutsch-polnische Grenze".
Nach den Kahlflächen Dresdens hatte mich damals die Urbanität von Görlitz, die Geschlossenheit des Stadtbildes, tief beeindruckt.
Dann folgte eine Phase der Bestürzung, ein Abprallen der inneren Zuwendung an den Äußerlichkeiten der anscheinenden Verwahrlosung, des Verfallenen, der Gleichgültigkeit, wie es mir vorkam.
Dann, im Wiederkehren, das nicht enden wollende Entdecken von Details, von Geschichten, der Lichthöfe und versteckten Terrassen auf Innenhöfen, von italienisch anmutenden Galerien. Was ich in Italien so sehr positiv erlebt hatte, die lange Geschichte und Tradition einer Kultur, die sich im Stadtbild darstellt - in Görlitz habe ich es wiedergefunden. Renaissance, verbunden mit der Formsprache deutscher Gotik, bürgerliche Barockbauten, den Historismus der Gründerzeit und Jugendstil in Zweckbauten.
So wie mir ein Görlitzer Denkmalschützer voller Fröhlichkeit berichtete, dass er in Venedig die Renaissanceportale nachgemessen hätte und zu seiner eigenen Überraschung die Aufmaße auf den Zentimeter genau mit den Görlitzer Portalen übereinstimmten, so habe ich Geschichte immer nur lesen können, habe sie nie sehen können. Der historische Wandel, der die deutschen Innenstädte veränderte, die Kriegszerstörungen, die Jahrhunderte in Schutt und Asche versinken ließen, der Wiederaufbau, der den Städten eine zeitgemäße Bebauung verordnete - auch im heutigen Lübeck habe ich Thomas Mann nicht wiederfinden können. Und dann Görlitz: Für mich ist dort Geschichte noch zu erleben, in ihrer Tatsächlichkeit, in ihrem Wandel und ihrer Gegenwärtigkeit.
Vom Bahnhof aus wandere ich durch die Haupteinkaufsstraße, die Berliner Straße, überquere den Postplatz mit der "Muschelminna", gehe am Kaufhaus und am Naturkundemuseum vorbei, links liegt das Theater. Der "Dicke Turm" zeigt an, dass hier einst die Stadtbefestigung verlief. Die Altstadt ist ruhiger, weniger Menschen und keine Neon-Reklamen. Über den Obermarkt gehe ich am Rathaus vorbei, über den Untermarkt die Petersstraße entlang. Mein Blick gleitet durch die Straßen und über die Fassaden: auch nach fünf Jahren des Immer-Wiederkehrens entdecke ich jedes mal neue Details. Oberhalb der Neiße verweile ich zu Füßen der alles überragenden Kirche St. Peter und Paul und blicke über den Fluss. Kähne aus dem Spreewald staken auf der deutschen Flusshälfte mit Besuchern in bunter Kleidung, und ich denke daran, dass Görlitz exakt auf dem 15. Meridian liegt. Hier ist präzise mitteleuropäische Zeit. Für Deutschland ist Görlitz damit die Stadt, in dem die Stunde schlägt. Ich betrachte die Neubauten auf dem gegenüberliegenden Ufer und frage mich: Hatte diese Stadt einfach Glück oder ist es historischer Zufall, dass sie so erhalten blieb?
In der ersten Phase: Ja. 1525 trifft ein großer Stadtbrand mit der Ausbreitung der Renaissance zusammen, um eine völlige Neugestaltung der Stadt einzuleiten. Die Fachwerkhäuser werden als kräftige Renaissancegebäude in Stein wieder aufgebaut. Görlitz ist Handelsstadt, betreibt Fernhandel mit halb Europa und besitzt Privilegien wie das Münzrecht und die Hohe Gerichtsbarkeit. Die beherrschenden Bürger sind die Handelsherren, die am Untermarkt und in den angrenzenden Seitenstraßen ihre Häuser bauen lassen.
Der Kundige erkennt die spätgotischen Laubengänge, mehrgeschossige Hausfassaden der Renaissance, stilrein und mit barocker Überbauung, Barockhäuser, wenig Klassizismus und dann wieder Neorenaissance. Jahrhundertelang ist an den Häusern in Görlitz gebaut worden, und jedes Haus hat sein eigenes Gesicht. Gerade diese Unterschiedlichkeit und das individuelle Gestaltungsbedürfnis der Bauherren und Architekten in ihrer Zeit lässt das Auge des Betrachters immer wieder neue Details entdecken. Häuser, entstanden zu Zeiten, als Görlitz noch zu Böhmen gehörte. Erhalten geblieben, weil sich das wirtschaftliche Zentrum der Stadt nach Süden verlagerte.
Knapp 200 Jahre nach dem ersten großen Stadtbrand folgte 1717 der zweite mit verheerender Feuersbrunst. Ironie des Schicksals: er bot der modernen Bauweise, dem Barock, genügend Fläche für Neubauten. Es entstanden die Barockhäuser des Obermarktes - wie das Napoleonhaus, von dem erzählt wird, dass Napoleon dort vom Balkon aus 1813 eine Truppenparade abgenommen habe - oder die Lange Straße mit dem Schrinkelschen Haus.
Mit dem Schleifen der Stadtmauern 1847/48 und dem Bau des Bahnhofs weit vor der Stadt, verlagerte sich das wirtschaftliche Zentrum von der Altstadt weg in Richtung Bahnhof. Die Villen des Besitzbürgertums und die Gründerzeitviertel mit ihren klotzigen Miethäusern entstanden auf der grünen Wiese, ließen die Altstadt unberührt.
Aus dieser Zeit stammen das Jugendstil-Kaufhaus - seit 1923 Karstadt - und die Landskronbrauerei an der Neiße, die Berliner Straße, die Jacobstraße mit der Straßbourg-Passage und der Wilhelmplatz.
Auch die Fabriken des Waggonbaus entstanden damals. Hier wurde schon 1934 der "Fliegende Hamburger" gebaut, ein roter Diesel-Doppelkopf-Schnellzug, der die Strecke von Hamburg nach Berlin vor bald siebzig Jahren bereits in zweieinhalb Stunden fuhr.
Die alliierten Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges ließen Görlitz weitestgehend unbehelligt und die Neubau-Areale der DDR entstanden an den Stadträndern.
In dieser zweiten Phase war es dann kein Zufall mehr, dass die Stadt erhalten blieb. Auch wenn die Baupolitik der DDR kein Interesse an historischen Bauten hatte, es sei denn, es waren Prestigebauten (wie z. B. das Napoleonhaus am Obermarkt), verteidigten historisch bewußtere Görlitzer die Stadt gegen zwei Fronten.
Die eine war die Ambition der offiziellen Baupolitik - wenn auch selten - ganze Straßengevierte abzureißen oder einzelne Häuser aus dem Bestand heraus zu brechen. Die Görlitzer Denkmalschutzbehörde, die es seit 1952 gibt, hatte im Allgemeinen darauf verzichtet, die Denkmalplaketten an den historischen Bauten anzubringen. In diesen drohenden Abriss-Situationen wurden dann die Plaketten angebracht und manches Mal gingen die Denkmalschützer bis nach Dresden, um Eingriffe zu verhindern. Die andere Front war die zunehmende Gefährdung der Bausubstanz, für deren Erhaltung zu geringe Mittel bereitstanden. In einem "inoffiziellen" Zusammenwirken zwischen Denkmalschutz, Bauamt und Stadtplanung wurde, zum Beispiel, immer wieder versucht - und oft erfolgreich - zumindest die Eckbauten zu erhalten. Wenn die Eckbauten eines Straßenzuges erhalten werden konnten, galt auch der Straßenzug insgesamt als weniger gefährdet.
Die Geschichte des Görlitzer Denkmalschutzes ist noch nicht geschrieben worden: Wie dieses Zusammenwirken ein großes Erbe erhalten hat, wie Abriss und "moderne" Durchbauung verhindert wurde - unter welchen Mühen, mit welchem Einfallsreichtum und welchen ,Tricks'.
Wenn ich so einfach lese, dass die Altstadt insgesamt unter Denkmalschutz steht, kann ich damit nur wenig anfangen. Görlitz hat 3.500 Einzeldenkmale! 3.500 Gebäude, Häuser, Brunnen, Türme,... und alle können und müssten einzeln betrachtet werden.
In den letzten Jahren hat sich viel getan. So wie es mir immer wieder Spaß macht, zu sehen, mitzuerleben, wie einzelne Häuser, ganze Straßenzüge im alten Glanz wieder entstehen - es ist, als ginge die Sonne auf - so sehr werden die immer noch vorhandenen großen Schatten dadurch umso deutlicher.
So wie es nicht verwunderlich ist, dass die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit bislang rund 8,3 Millionen Mark in Görlitz ein Fortbildungszentrum für Handwerk und Denkmalpflege aufgebaut hat, so ist es keine Frage, dass es die wirtschaftliche Kraft von Görlitz allein übersteigt, dieses Erbe zu erhalten.
Die Altstadt ist ein europäisches Erbe und es ist zu hoffen, dass dieses Erbe auch so angenommen wird.
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